Berühmt sind die MEDDAHs, für ihre Art des Geschichtenerzählens.
Sie erzählen nicht nur, nein, sie entführen dich mit ihrer Stimme in ein Reich, in der du verwundbar stark bist, in der Flöhe Schneider und Dromedare Marketender sind und du sieben tage wandern musst, um nur die Länge eines Gerstenkornes hinter dich zu bringen. Deshalb wollte ich auch immer ein MEDDAH werden, um die Leute zu bezaubern mit den Märchen; den Märchen, die ich gerne als Kind hörte, aus dem Munde meines Vaters. Auch er entführte mich in so einige Abenteuer mit Riesen, Drachen und sprechendem Allerlei.
So als Erwachsener versuche ich mich an die Märchen zu erinnern, doch es gelingt mir nicht. Nicht dass ich mich nicht an die Handlungen erinnere, nein, mir fehlt die Sprache, der Klang der Stimme, der dieses Reich wieder zum Leben erweckt...
Nachts, wenn ich nicht schlafen kann und der Wind durchs Gesims rauscht, die Vorhänge zum Flattern bringt und anfängt, mir ins Ohr zu wispern, ist es mir, als wolle er mir die Märchen meiner Kindheit erzählen.
Und ich höre ihn raunen:
Es war einmal, es war keinmal,
in einer früheren Zeit, als das Sieb im Stroh war,
als Esel Wesire und Kamele Barbiere waren,
als es mehr Menschen als Hirse gab, und es Sünde war „mehr“ zu sagen, ging ich drei Monde und sieben tagelang, immer weiter, über Flüsse, über Hügel, ohne Halt, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass nicht mal die Länge einer Gerste hinter mich gelegt hatte...
da lebte in der damaligen Zeit ein Padischah. Der befahl seine drei Söhne zu sich ans Krankenbett, um ihnen zu verkünden, dass sie sich auf die Suche nach dem Jungbrunnen machen sollten, nach jenem Jungbrunnen, in dessen Tiefen sich der Trunk der Jugend befand. Und diesen Trunk sollen sie zu ihm bringen, damit er wieder genese. Doch sie sollen sich dort vor eins in acht nehmen, und zwar vor Ejderha, und er erzählt seinen Söhnen, das Geheimnis von Ejderha:
"Höret meine Söhne..." beginnt der Padischah, " neigt euer Ohr zu mir, damit ihr besser höret, denn mein Atem ist schwach, höret gut zu, damit ihr es wisset. Ejderha ist der Hüter des Elexiers, der Wächter des Jungbrunnens. Hütet Euch vor ihm. Hütet euch vor seiner List und seiner Kraft. Hütet euch vor seinen sieben Köpfen. Denn Ejderha ist ein Drache, ein Drache mit sieben Köpfen. Mit allen Köpfen greift er euch an; wenn ihr sie wegschlägt wachsen sie nach; schlägt ihr nur zwei ab, so wachsen zwei, schlägt ihr alle ab, so wachen alle nach; alle deine Angriffe bleiben bei ihm fruchtlos. Meine Söhne, ich sage euch jetzt, wie ihr ihn erlegen könnt, hört zu, ich habe kein Atem mehr, hört gut zu, und merkt es euch, nur eines kann ihn vernichten, und zwar..."
Da verstummt der Wind; ich spitze meine Ohren: Nichts. Kein Flüstern mehr; ich verschliesse meine Augen: meine Lider drücken mir eine Träne heraus; ich neige meinen Kopf und versuche mich an das Märchen zu erinnern. Doch es ist nicht mehr gegenwärtig. Stattdessen taucht vor mir schemenhaft der Schatten eines Kirschbaumes und ich sehe, dass der Baum keine Kirschen trägt, sondern Datteln. Was ist das für ein sonderbarer Baum, frage ich mich und schon entsteigt aus dem Dattel ein Mistkäfer und ich traue meinen Augen nicht. Ich sehe genauer hin. Ja es ist ein Mistkäfer und sogar eine Mistkäferfrau. Da kommt der Abenwind auf, packt die Mistkäferfrau und trägt sie hinunter zum Tal.
Ich höre ihn Flüstern. "Es war einmal, es war keinmal eine Mistkäferfrau..." und schon lässt der Wind das Ungeziefer auf der Weide fallen.
Ich spüre den Wind an meinen Wangen. Verwundert öffne ich meine Augen und siehe da, ich liege unter dem Kirschbaum, alle Viere von mir gestreckt. Ich versuche aufzustehen, doch ich kann nicht. Auf allen Vieren krieche ich am Boden, bis ich nicht mehr krieche, sondern geschickt laufe, und immer leichter fällt es mir zu laufen, behende geschwind, jage ich durch die Weide, geschmeidig, wie eine Katze überbrücke ich Hürden, springe, hüpfe, über Stock und Stein, über Fluss und Wiese.
Der Abenwind kommt wieder auf, streicht über mein Fell und wispert in mein Ohr: "Es war einmal, es war keinmal eine Mistkäferfrau. Sie machte sich auf die Suche nach einem Ehemann und traf eine Katze ..."
und schon sehe ich die Miskäferfrau auf mich zukommen und verwundert rufe ich ihr entgegen: „Hey Mistkäfer, wo kommt du her? Wo gehest Du hin!?“
Beleidigt erwidert sie: „Ich heiße nicht Mistkäfer!“
So frage ich: „Oh, wie heißt Du dann?“
„Kokonierte Kokonella,
bornierte Bonbonella, wohin gehest Du Korallen Perle, hättest du mich fragen müssen.“
„Oh, entschuldiget, unser einer vermochte es nicht zu wissen. Kokonierte Kokonella,
bornierte Bonbonella, wohin gehest Du Korallen Perle?“
„Ich suche mir ein Ehemännchen.“
„Heirate mich!“
„Dein Schwanz ist lang, du würdest mich schlagen.“
„Na dann, viel Glück auf Deinem Weg und hab’ eine gute Reise.“ sagt’ die Katz’...
und wie das Märchen weitergeht. Ich weiss nicht mehr. Auch diese ist verblasst.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich es liebte den Märchen zuzuhören: Die ewigen Wiederholungen, die wundersame Stimme, der Klang der Stimme, ein Klang, der mich einfing und weiter trug, tiefer in das Land hinein. Die Sätze so karg, die Sätze so unerwartet. alles was geschah war so unmöglich.
Jetzt als Erwachsener kommen sie mir teilweise so brachial vor, ja sogar brutal. Wenn ich die Sätze in meinen Kindertagen hörte, hatten sie nicht den geringsten Anschein von einer Zermaterung und Peinigung. Ich hörte einfach zu und stelle mir nichts Schlimmes dabei vor, wenn ich meinen Vater sagen hörte: "Der Padischah nahm die Augen des Sohnes mit seinen eigenen Händen heraus, steckte sie in die Tasche und befahl danach: 'Los, wirft ihn in einen Brunnen!'."
Das geschah einfach. Es wurde gesagt und damit hatte es sich. So war das Märchen. Es geschah. Es war schön. Schön, so wie es war: Bunt, grell, brutal.
Doch jetzt geht dies mir ins Blut. Vielleicht habe ich in der Zwischenzeit zu viele Horrorfilme gesehen, bei denen die ausgestochenen Augen im Gesicht eine tiefgefurchte, runzlige Mulde hinterliess. Verschrumpelt, blutig, verkrustet. Das eigesackt, abgemergelte Gesicht frass sich in mein Gehirn ein. Mit diesen blutig ausgehölten Augen, lag er nun gefesselt, tief in einem ausgetrockneten Brunnen und hatte nicht die Kraft nach Hilfe zu rufen. Tage verstrichen, er hungerte, Tage vergingen, er dürstete... Wäre sein Hund nicht oben, der Treue, der um das Leben seines Herrchen bang und Fremde zum Brunnen führte, wäre er unten sicherlich verhungert.
Nachts liege ich da und frage mich, wie ich solche Märchen mir nur anhören konnte...
Ich ahne, wieso ich kein Meddah geworden bin. Denn je älter ich wurde, um so weniger gefielen mir die Märchen. Ich fing sogar an, sie zu hassen. Ich fand sie fürchterlich. Aus diesem Grund, vertrieb ich sie auch aus meinen Träumen; zum Schutze nahm ich mir einen stierköpfigen Hühnen, der sie jagte, und geflügelte Löwen bewachten das Tor zu meinem Traum; und jeden, der eintrat, berührte ein Schimmel mit seinem leuchtendem Horn an seiner Stirne.
Nein, nie wieder würde eine Prinzessein das Eingeweihde eines Pferdes entnehmen, und mit dessen Darm, das Tal um den Berg abstecken, um sich hernach in das ausgehöhlte Tier zu begeben, um dort Zwillinge zu gebären, einen Sohn und eine Tochter. Der ganze Schutzzauber des Darms würde doch nicht helfen; denn der Riese, von dem sie flüchteten, würde sie auffinden und Mutter, Kind und Pferdeleiche auffressen, samt dem Darm.
Nein, nie wieder würde ich ihnen in mein Traum Einlass gewähren.
Aber mich bangt es auch vor dem Mann, mit dem Unterleib eines Pferdes; auch dieser Kleinwüchsige behagt mir nicht mit seinen verschrumpelten Gesicht und der Nase, im Ausmasse einer grossgewachsenen Kartoffel. Nein, ich fühle mich nicht wohl in ihrer Gesellschaft, in der Gesellschafft der Wesen, die seit der Vertreibung hier umherwandeln.
Es war ein falscher Entschluss, die Aufgabe meine Traumpforte von einem geflügelten Löwen bewachen zu lassen. Unser Geschmack scheint nicht derselbe zu sein. All die Wesen, die er einlässt, machen mich frösteln, sie berühren mein Herz nicht.
So muss ich mich selber auf die Suche machen, nach einem Reich, das mich mit seinen Tieren und Tälern bezaubert, und ziehe los, wandere über Stock und Stein, Feld und Wiese, drei Tage- und sieben Mondelang, immer weiter, über Hügel, über Täler, ohne Halt, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass ich nicht weiter gewandert bin, sondern nur den Weg zur Bücherei hinter mir liess, und ich trete ein, schau mich um, lass meine Augen gleiten über dicke, über dünne Buchrückwände und suche nach Büchern, die aus der Feder von Menschen stammen, die andere bazaubern wollten. So wie ich einst dies als ein Meddah tun wollte, bevor ich diesen Wunsch verlor, durch die Zeit oder durch schlechte Märchen.
Und ich möchte mich bazaubern lassen, ergiesse mich über die Seiten, klebe mein Herz an die Zeilen. Doch sie schweigen. Weder haben sie den Klang, noch die Sprache. Nichts Wunderliches.
Der eine versucht eine Holzpuppe in Abentuer zu verwickeln; doch der ungehorsame Rotzlöffel ist nichts, ausser einer Belehrung für Kinder, die sehen sollen, was aus einem wird, wenn man nicht in die Schule geht und auf das Wort seiner Eltern hört. Die Puppe hat einen Holzkopf, ist auch ein Holzkopf; sie ist ein Esel, wird auch hernach ein Esel, und am Ende, wird aus ihr doch ein Junge, ein Mensch eben. Weil sie erkannt hat, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Sie verwickelt sich in so viele Abenteuer, doch die Geschehenisse sind nichts als Metaphern. Nein, nein, belehr mich nicht. Bezaubere mich. Bezaubere mich mit einem Wunderland, in der Blumen sprechen, ein Land in der ich rückwärts gehen muss, um voranzukommen, ein Land in der Eier auf der Mauer tanzen und Löwen und Einhörner miteinander kämpfen. Das hat etwas Zauberhaftes. Aber wenn ich es mir genauer anschaue, dann sehe ich hier kein Märchen, der rein, um des Erzählens willen erzählt, nein, hier spüre ich den Geist des Erfinders und dies stösst mir auf. Der lebendige Kampf der beiden Wesen wird zum Bild, und ich sehe die Tiere als Wappen zweier Länder, die sich durch die Jahrhunderte bekämpfen und ich sehe grüne Hügel, Schlösser und Königreiche, ein Imperium, bei der die Sonne nicht unterget, da sie an der anderen Ecke wieder aufgeht, so gross ist es. Nein, auch dich will ich nicht hören, bitte schenke mir ein Märchen, das sich damit begnügt mich wandern zu lassen, über Stock und Stein, über Feld und Wiese, drei tage- und siebenmonde lang, immer geradeaus, über Hügel, über Täler, immer weiter, ohne halt, und wenn ich mich umdrehe, werde ich sehen, dass niemand mir diese Märchen erzählt, so muss ich wohl, diese Märchen selber erzählen. Und wenn ich anfange zu erzählen, so wird aus mir doch ein Meddah und mein Kindheitstraum würde dann wahr werden. Und ich würde dann Unglaubliches erzählen, so dass Erwachsene wieder zu Kindern würden und Kindern die Spucke an den Wangen herunterfliessen würde, da sie nicht mehr merkten, wo ihnen das Ohr und der Mund stünde...
Ich werde in mir Meddah finden, und er wird fabulieren; ich werde Meddah aus mir heraus, aus meinen Träumen heraus sprechen lassen.
Es brodelt in mir.
Ejderha, Jabberwocky und der Drache Kunibert reichen sich die Hände und reden zu mir mit der Stimme meiner siebenjährigen Nichte:
"Du schreibst Märchen, doch du hast keine Ahnung, wie ein Kind fühlt -- und was du das erzählst verstehe ich auch nicht", sagt sie
und bringt MEDDAH zum Schweigen.